„Mehr Bürgerbeteiligung“

Das beherrschende Thema in diesen Tagen sind die Auseinandersetzungen um den Bahnhofsrückbau in Stuttgart. Nachdem zunächst Fragen von Verkehrspolitik und Städtebau dominiert hatten, geht es seit Donnerstag um die Frage, wie staatliche Organe und Repräsentanten meinen, mit Bürgerinnen und Bürgern umgehen zu dürfen. Und da von Befürworterseite immer mal wieder die vermeintliche Legitimierung des umstrittenen Projektes angeführt wird, stellt sich vor allem die Frage, ob diese Legitimierung ausreicht. Abgesehen davon, dass die Legitimierung im vorliegenden Fall nicht einmal wie behauptet gegeben ist, da der Kostenrahmen, über den einst abgestimmt wurde, längst überdeutlich gesprengt wurde und ein Ende der Kostensteigerungen nicht in Sicht ist (wir reden von S21, es hätte aber auch zum Technischen Rathaus gepasst), stellt sich im nächsten Schritt die nächste Frage, nämlich, wie man Großprojekte so plant, dass am Ende eine für alle erkennbare Legitimation gegeben ist.

Oft zu hören ist in diesen Tagen die Forderung nach mehr Plebisziten, was ebenso wie der übergeordnete Wunsch nach „mehr Bürgerbeteiligung“ doch ein wenig pauschal daherkommt. Besonders wenn man, wie die SPD, immer dann den Volksentscheid in den Raum wirft, wenn diese Forderung dazu geeignet scheint, in jenem politischen Raum zu „punkten“, wirkt das nicht sehr durchdacht und geradezu sprunghaft. Das Problem einer inkonstistenten Haltung haben wir Grünen in diesem Punkt grundsätzlich nicht. Doch auch bei uns gibt es genug Stimmen, die auch die Risiken und Probleme, welche mit der Ausweitung von Plebisziten verbunden sind, nicht ignorieren. Meine persönlichen Fragen und Bedenken in Stichworten:
Mehrere Beispiele der jüngeren Vergangenheit zeigen die Anfälligkeit von Plebisziten für Populismus und Ressentiments.
Obige Kritik gilt besonders, wenn Fragen auf der Tagesordnung stehen, die (scheinbar) mit einer oder zwei Parolen zusammengefasst werden können. Die hohe Komplexität vieler politischer Fragen lässt sich mit einem Verfahren, in dem es oft nur schwarz oder weiß gibt, nicht abbilden. Allein schon die im parlamentarischen Raum übliche Möglichkeit, durch Änderungsanträge ein Vorhaben zu modifizieren, besteht bei Volksabstimmungen nicht.
Wie gehen wir mit dem Umstand um, dass nicht allen Teilen der Bevölkerung ein gleich(berechtigt)er Zugang zu den Medien offensteht und damit die Möglichkeiten, Gehör zu finden, oft ungerecht verteilt sind? Ist nicht Voraussetzung für aussagekräftige Volksentscheide, dass sich zunächst eine zivilgesellschaftliche Kultur entwickelt hat, die diese Verfahren trägt und sinnvoll mit ihnen umzugehen weiß?
Wenn es nur schwarz oder weiß gibt, wie können die legitimen Anliegen von Minderheiten berücksichtigt werden?

Um einschätzen zu können, ob „mehr Volksabstimmungen“ generell die Lösung unserer Probleme darstellen, lohnt es sich, einen Blick darauf zu werfen, wie die herkömmlichen Verfahren eigentlich immer wieder zu schlechten Lösungen führen, beziehungsweise woran das liegt. Den Themenbereich „großes Infrastrukturprojekt“ lasse ich durch Stuttgart 21 vorgeben. Da man hier aber nicht einmal eine grundsätzliche Notwendigkeit erkennen kann, sondern im Gegenteil nur Nachteile, wähle ich als Beispiel die daran anschließende, aber auch ohne S21 realisierbare Neubaustrecke Wendlingen – Ulm.

So. Einschub Anfang.
Eine schnellere Bahnverbindung zwischen Stuttgart und Ulm ist, gerade wenn man die Filstalbahn mit Geislinger Steige kennt, nichts, was man von vornherein als Blödsinn abtun kann. Über Maßnahmen, hier zu Verbesserungen im Bahnverkehr zu gelangen, sollte man daher durchaus diskutieren. Das wurde auch gemacht, in welchem Rahmen auch immer.
Heraus kam jedoch eine Variante, die insgesamt und gegenüber einigen Alternativen erhebliche Nachteile besitzt und viele der heutigen Probleme nicht löst. Ausführlich findet man das inklusive einer durchaus wohlwollenden Kostenanalyse hier, einige wichtige Punkte daraus in Kürze:
Die Maximalsteigung der geplanten Schnellfahrstrecke beträgt 25 Promille und ist damit steiler als die bestehende Geislinger Steige mit 22,5 Promille. Damit ist die Strecke für den Güterverkehr nicht geeignet.
Der Scheitelpunkt der neuen Strecke soll 162 Meter höher liegen als derjenige der Bestandsstrecke.
Der längste Tunnel soll teilweise durch Karstgestein unterhalb des Grundwasserspiegels gebohrt werden. Damit würde man sich in einem technischen Grenzbereich bewegen. Neben hohen Kosten ist so auch von Bauzeitverzögerungen auszugehen.
Ausschlaggebend für die Bevorzugung der projektierten Variante war am Ende, dass nur diese eine Kantenfahrzeit von 28 Minuten zulasse und so optimal in einen ITF passe.
Die fahrplantechnische Argumentation steht auf, nun ja, wackligen Füßen. Man muss zunächst davon ausgehen, dass es keine grundlegenden Änderungen in den Knoten Frankfurt (Main) und Köln geben wird und die für den ITF ungünstige Fahrzeit Mannheim – Stuttgart von 36 min mit dem ICE3 nicht verkürzt werden kann. Dann müsste man, um sowohl den Mannheimer Dreißigerknoten als auch den Stuttgarter Nullerknoten beizubehalten, die Züge so legen, dass sie an beiden Enden dieser Verbindung etwa vier Minuten neben der eigentlichen Symmetrieminute liegen, was in größeren Knoten möglich ist. Der dafür erforderliche Ausbau der Riedbahn ist als unproblematisch zu betrachten. Zwischen Stuttgart (Abfahrminute 07) und Ulm ergibt sich dann aber eine anzustrebende Kantenfahrzeit von 20 oder 50 Minuten. Ersteres ist erstens unrealistisch und erfordert zweitens die kaum sinnvoll realisierbare Umstellung des Ulmer Nullerknotens auf einen Dreißigerknoten. Eine Verkürzung von derzeit verspätungsanfälligen 54 auf sichere 50 Minuten ist aber unbedingt anzustreben. Besser noch wären 48, weil dann die derzeit vom ICE aus Richtung Westen nicht erreichten Anschlüsse in Richtung Kempten und Heidenheim auch sicher genug wären. Für die Lösung dieses seit Jahren bestehenden Ulmer Fahrplanproblems bedarf es aber nicht der überteuerten und ungünstigen Variante, die gerade in der Planung ist. Diese Beschleunigung kann zum Beispiel schon durch einen durchgängigen Ausbau der Strecke Esslingen – Süßen auf 160 km/h – die dafür notwendige Vergrößerung einiger Kurvenradien ist von einer Ausnahme abgesehen sehr einfach – und eine kurze Neubaustrecke auf der Alb zwischen Amstetten und kurz vor Ulm erreicht werden. Für den Güterverkehr muss wiederum die Kapazität der Alternativstrecke Stuttgart – Aalen – Donauwörth – Augsburg durch einige kleinere Maßnahmen erhöht werden. Es liegt auf der Hand, dass dafür wie auch für andere ähnlich zielführende Varianten weniger Geld in die Hand genommen werden müsste. Eine Beschleunigung der Gesamtstrecke Stuttgart – München sollte dann eher durch Maßnahmen östlich von Ulm ermöglicht werden. Das dortige Gelände erlaubt weitgehend tunnelfreie und damit kostengünstige Trassierungen. Ändert man bestimmte Prämissen, kann man selbstverständlich zu weiteren Lösungsansätzen als diesem hier gelangen. Nicht alle davon werden schlecht sein.
Einschub Ende.

Wer den Einschub durchgehalten oder auch nur überflogen hat, erkennt, dass das Problem solcher Vorhaben zuallererst in der mangelnden Transparenz solcher Diskussionen über Varianten und Alternativen liegt. Wenn man also nur am Ende abstimmen soll, ist dem Ziel der Beteiligung nicht gedient, weil in nicht unwesentlichen Punkten doch wieder kein Einfluss besteht. Für die Erarbeitung einer sinnvollen Variante wie im vorliegenden Beispiel kann es nicht genügen, einmal abzustimmen. Andererseits verhindert das herkömmliche Verfahren vermutlich sehr effektiv, dass viele gute Ideen, die man in einem frühen Stadium des Prozesses benötigt, gar nicht erst bis an die entscheidenden Stellen durchdringen.
Letztgenanntes Problem besteht sogar ín der inneren Struktur der beteiligten Organisationen fort. Viele fachlich kompetente Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den mittleren Hierarchieebenen der Bahn erzählen unseren Verkehrspolitikerinnen und Verkehrspolitikern oft davon, dass ihre Einwürfe und Warnungen, bestimmte Pläne seien aus eindeutigem Grund nicht sinnvoll, von der Leitungsebene nicht zur Kenntnis genommen werden. In dieser Leitungsebene sitzen allerdings auch weder Eisenbahnerinnen und Eisenbahner, die über die praktischen Abläufe Bescheid wissen, noch Leute, die in der Lage sind, einen Integralen Taktfahrplan mathematisch zu entwerfen. Somit ist also auch zu fragen, wie der Souverän auf die Zusammensetzung etwa des Bahnvorstandes wirksam Einfluss nehmen kann. Solange die Bahn Eigentum der Bundesrepublik Deutschland ist, müsste man sich hier über konkretere Mitbestimmungsmöglichkeiten Gedanken machen.
Für den Fahrplan gilt dasselbe wie für die Bauvorhaben an sich. Eine transparente und mit längerfristigem Vorlauf angelegte Diskussion über Varianten und Möglichkeiten muss auch hier das Ziel sein.

Das alles macht für mich klar, dass dem Wunsch nach besserer Bürgerbeteiligung nicht unbedingt schon gedient ist, wenn man da alle paar Wochen ein paar Kreuzle macht. Das wäre auch zu simpel. Wer den Anspruch formuliert, mehr im politischen Raum mitbestimmen zu dürfen, von dem darf man im Gegenzug auch verlangen, sich in angemessener Weise mit den Details der Fragen zu beschäftigen, in denen die Mitbestimmung erwünscht ist.
Ein Modell, das hier mehr leisten kann als eine Abstimmung, wurde in Greifswald bereits praktiziert. Ich meine das „Bürgerforum“ zum kommunalen Klimaschutz, das in ein Bürgergutachten mündete, und als Teilprozess auf dem Weg zum Klimaschutzkonzept zu verstehen war. Durch die fachliche Begleitung ermöglicht solch ein Forum die Beachtung wissenschaftlicher Standards und liefert damit eine gute Antwort auf eines der größten Defizite von Plebisziten. Einziger Mangel war bzw. ist seine geringe Verbindlichkeit. Das zu ändern ist aber möglich. Die generelle Etablierung transparenter Beteiligungsverfahren sollte daher eine Antwort auf die Frage sein, was gemeint ist, wenn von „mehr Bürgerbeteiligung“ die Rede ist.

Ein Kommentar bei „„Mehr Bürgerbeteiligung““

  1. Und da von Befürworterseite immer mal wieder die vermeintliche Legitimierung des umstrittenen Projektes angeführt wird, stellt sich vor allem die Frage, ob diese Legitimierung ausreicht.

    Stuttgart ist weit, Greifswald so nah. Welche Legitimation hat des Projekt Technisches Rathaus, wenn die Kosten auch längst den Rahmen einstiger Zustimmung gesprengt haben?

    Ist jemand ernsthaft der Meinung, die Greifswalder würden in Massen dagegen auf die Straße gehen, wie in Stuttgart die Leute gegen das Bahnhofsprojekt? Dabei wird das Projekt vor allem mit ihrem Geld finanziert.
    So verschieden ist die Welt.

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